Till Beyer, Klasse 12, Gymnasium Carolinum Neustrelitz
17. März 1941
„Seligmann!" höre ich meinen Namen. Ich trete vor. Seit über einer Stunde warte ich jetzt hier. Worauf? Das weiß niemand so genau. Doch dass es sich um nichts Gutes handelt, daran hat niemand einen Zweifel. Das ist deutlich an den Gesichtern der Umstehenden abzulesen. Vor Kälte zitternd trete ich vor den SS-Mann. Abfällig mustert er mich. „Handwerkliche Fähigkeiten oder eine ähnliche Ausbildung?" fragt mich ein neben dem Deutschen stehender Dolmetscher. „Nein." erwidere ich und werde daraufhin durchgewunken. Im Inneren des Ghettos erwartete mich kein schöner Anblick. Die Straßen sind verstopft, das gesamte Viertel ist vollkommen überfüllt. Die vor mir Angekommenen versuchen in großer Eile noch ein Dach über dem Kopf zu finden, irgendeine Wohnung, eine, die nicht schon zwei- oder gar dreifach belegt ist. Mit einem mulmigen Gefühl muss ich an die vielen Menschen denken, die noch draußen vor dem „Ghetto" warten. Ghetto, ein Begriff, den ich bisher nur aus Erzählungen kannte, von Juden, die aus Warschau entkommen waren, bevor auch sie eingesperrt werden konnten. Die Geschichten hatte ich bisher als übertrieben abgetan. Bis sie anfingen eine Mauer mitten in Krakau zu errichten.
Ich beginne mich immer weiter ins Gewühl auf den Straßen zu begeben. Ich sehe bekannte Gesichter, doch niemand hat Zeit zu grüßen oder sich zu unterhalten. In aller Augen ist ein gehetzter, fast animalischer Ausdruck zu erkennen. Sie haben Angst. Ihrer gewohnten Umgebung entrissen und aus ihrem Heim vertrieben, sind sie geradezu besessen davon, ein wenig Sicherheit zu finden.
21. März 1941
„... ZU MELDEN". Ich öffne die Augen. Es stinkt bestialisch in dem kleinen Raum, der nun mein zu Hause ist. Die vier anderen Männer im Raum sind schon wach. Einer steht am offenen Fenster, „Was ist los?" wende ich mich fragend an die anderen. „Hör zu!" sagt Jakob, der Mann neben mir. Prompt ertönt erneut die blecherne Stimme über Lautsprecher: „ALLE INSASSEN HABEN SICH SOFORT AM ZG ODA-PLATZ ZU MELDEN!" verkündet sie eindringlich. „Das ist ungewöhnlich." stellt einer der anderen fest. „Um die Lebensmittelrationen kann es sich jedenfalls nicht handeln" entgegnet Jakob und runzelt die Stirn. Jakob ist genau die Art Mensch, die die Nazis für ihre Anti-Juden Propaganda benutzen. Ein erfolgreicher, skrupelloser Bankier, der zu allen Klischees auch noch eine Hakennase sein Eigen nennt. Dies alles denke ich, während ich mich erhebe und aus einem Eimer in der Ecke des Zimmers Wasser schöpfe, um mich zu erfrischen und notdürftig zu säubern. Anschließend macht sich unsere Gruppe auf den Weg zum Zgoda-Platz. Dort drängen sich bereits Menschenmassen. „Ich habe gehört, dass wir hier drinnen fast 10.000 Bewohner haben." sagt Jakob. „Ich bin der Meinung es sind eher 15.000." entgegnet ein anderer aus unserer „Wohngemeinschaft". 'Viel zu viele jedenfalls.' denke ich, während die Neuankömmlinge uns weiter nach vorne drängen. „Was ist hier los?" wende ich mich an einen der Umstehenden. „Ich denke," ruft er laut, um das Stimmengewirr, das immer weiter anwächst, zu übertönen „sie wollen uns zum Arbeiten einteilen."
Und tatsächlich, nachdem wir über zwei Stunden gewartet hatten, konnten wir endlich eine Reihe von Tischen sehen, an denen uniformierte Männer saßen. Sie nahmen offenbar die Einteilung vor. Da ich als Gärtner keine besonderen Fähigkeiten habe, erwartete ich nicht, zur Arbeit eingeteilt zu werden. Der Deutsche mustert mich eingehend von oben bis unten. Dann sagt er in brüchigem Polnisch: „Steinbruch!" trägt meinen Namen und meine Tätigkeit in eine Tabelle ein, reicht mir eine Art Ausweis und wendet sich gelangweilt dem nächsten zu. 'Steinbruch also,' denke ich mit einem sehr unguten Gefühl. Einem Gefühl, das mir sagte, dass ich gerade mein Todesurteil bekommen hatte.
11. Mai 1941
'Ich bin am Ende' denke ich, während ich meine abgemagerte Gestalt im Spiegel mustere. An die Schmerzen, die die harte Arbeit im Steinbruch in Knochen und Gelenken hervorruft, gewöhnt man sich. Nicht jedoch an den Hunger, der mein Inneres dauerhaft verkrampfen lässt. Man sieht auf den Straßen ganz deutlich wo jemand arbeitet. Und das mal abgesehen von den optischen Unterschieden, wie dem Steinstaub, der sich nicht aus der Kleidung entfernen lässt. Nein, man sieht es an den Augen. Während in den Augen der Steinbruch- Arbeiter nur Leere und Gebrochenheit zu erkennen ist, so blitzt in den Augen der Fabrik- und Verwaltungsangestellten noch etwas anderes. Sie empfinden noch Hoffnung. Ihre Freude am Leben 1st noch nicht erloschen. Doch sie haben nicht gesehen was ich sah. Wer keine Kraft mehr hatte zu arbeiten, einfach umfiel, weil alles zu viel wurde, der wurde erschossen. Einfach so. Nein, Hoffnung habe ich keine mehr, denn hier kommt keiner mehr heraus. Sie werden uns alle töten, uns zwingen, uns zu Tode arbeiten zu lassen. Daran habe ich keine Zweifel mehr.
9. Juni 1941
Heute ist ein guter Tag. Der erste seit Wochen. Denn statt Brot und Schmierfett gibt es heute außerdem ein kleines Stück Fleisch. Ich habe keine Ahnung wie, aber Jakob hat es irgendwie geschafft an koscheres Fleisch heran zu kommen. Mittlerweile sind wir nur noch zu viert, Einer war am Abend zuvor nicht zurückgekehrt. Ich habe ziemlich genaue Vorstellungen warum, will den anderen jedoch nicht die schönen Fantasien von Flucht und Freiheit nehmen. Jakob erzählt uns, dass er einen Kontakt habe, der in einer Fleischerei arbeite. Dadurch könne er Fleisch ins Ghetto schmuggeln. Dieses verkaufe er dann zu „Wucherpreisen" wie Jakob es mehrmals betont, damit auch keiner sein Opfer zu gering schätze.
Plötzlich hören wir Motorgeräusche. Scheinwerfer durchschneiden die Nacht vor unseren Fenstern. „Schnell," rufe ich „das ist die SS!". Eilig schlucken wir die Reste des Fleisches herunter. Dann warten wir. Wir hören, wie an die Wohnungstür im Stockwerk unter uns gehämmert wird. Daraufhin vernehmen wir das Schreien einer Frau. Ein Baby weint. Die Frau verstummt, doch das Baby ist weiter deutlich zu hören. Es geht mir durch Mark und Bein. Ich blicke meine Kameraden an und sehe deutlich, dass es ihnen ebenso ergeht. Gleich darauf hören wir Schritte, welche die Treppe erklimmen. Gleich darauf erbebt unsere Tür unter den Schlägen der Eindringlinge.
„SS, aufmachen!" brüllt eine raue Stimme. Wir sehen uns an. Niemand rührt sich.
Erneut wird gegen die Tür gehämmert. Das Gebrüll setzt sich fort. Als mir klar wird, dass keiner der anderen die Tür öffnen wird, lege ich die drei Schritte zurück und entriegele sie. Sofort muss ich zur Seite springen, denn ohne Umschweife stürmen mehrere Uniformierte in die Wohnung. Der letzte von ihnen, dem Gebaren nach der Anführer der Gruppe, sieht uns abschätzig an. Während er uns mustert, bewegen sich die anderen Deutschen nicht. Sie warten wohl auf seine Befehle. „Dies ist eine Routinekontrolle. Stellen sie sich mit dem Gesicht zur linken Wand." sagt er mit schneidender Stimme. Keiner von uns wagt es, sich dem Befehl auch nur ansatzweise zu widersetzen. So stehen wir einige Momente später, den Blick starr auf die Wand gerichtet, da und hören, wie unsere Wohnung hinter uns völlig auseinander genommen wird. Etwa fünf Minuten später verstummen die Geräusche. Wir hören Schritte, die näher kommen. Dann richtet der Offizier das Wort an uns: „Hat mir irgendjemand der anwesenden Herren etwas zu sagen?" fragt er ruhig. Niemand rührt sich. Keiner sagt etwas. „Wirklich niemand?" fragt er erneut. Plötzlich fängt er an zu brüllen: „Welches von euch dreckigen Judenschweinen hortet unerlaubt Bargeld?". Wieder zeigt keiner eine Reaktion. Aus den Augenwinkeln versuche ich in die Gesichter der anderen zu sehen, doch alle blicken angestrengt zur Wand. „Aha, es war also niemand? NIEMAND hat also das Geld unter der Diele versteckt?" brüllt der SS-Mann. Er scheint regelrecht außer sich zu sein, weil keiner freiwillig sein Todesurteil unterschreiben möchte. Meiner Meinung nach konnte es nur Jakob sein. Die anderen hatten, genau wie ich, keine Ersparnisse mit ins Ghetto bringen können. Dessen war ich mir ziemlich sicher, Während ich nachdenke schreit der SS-Offizier ununterbrochen vor Wut. Es ist schon fast ein Gekreische, das in den Ohren schmerzt. Doch es zeigt Wirkung. Wie ich vermutet hatte ist scheinbar Jakob der Gesuchte, denn er fängt plötzlich an zu zittern. Das Zittern breitet sich von seinen Beinen über den gesamten Körper aus, bis er unkontrolliert am ganzen Körper zuckt. Er sieht furchtbar hilflos und verängstigt aus. Eine Welle von Mitleid überkommt mich. Doch ich weiß, dass ich ihm nicht helfen kann. Jedes Vergehen wird im Ghetto gleich bestraft. Unsere Leben sind wertlos. Und genau so werden wir auch behandelt. „Du da, vortreten 1" schreit der Offizier, der auch das Zittern und Zucken bemerkt hat. Ein Lächeln huscht über sein sonst so kaltes Gesicht. „Erschießen Sie ihn!" weißt er einen Untergebenen an. Anschließend verlässt er den Raum, ohne sich umzublicken.
28. September 1941
Meine Zeit ist abgelaufen. Heute soll ich als Erntehelfer in die Ukraine geschickt werden. Ich würde es so gerne glauben. Doch es stimmt leider nicht. Unsere Aufseher haben wohl gemerkt, dass ich kaum noch die Spitzhacke heben kann. Warum sollten sie dann gerade mich schicken, um als Erntehelfer zu arbeiten? Das, was sie uns versprochen haben ist zu schön, um der Realität zu entsprechen. Ein warmes Feldbett, drei Mahlzeiten am Tag - unvorstellbar. Ich stehe am Bahngleis. Unwillig steigen die Menschen vor mir in die Waggons. Die scheinen mehr für den Transport von Vieh denn dem von Menschen geeignet zu sein. Ich bin an der Reihe. Ich versuche die Stufen hinauf zu klettern, doch meine Kräfte versagen. Helfende Hände ziehen mich in den Waggon. Wenig später fahren wir ab. Die Wärme und Nähe der Menschen um mich herum und das gleichmäßige Rattern des Zuges wiegen meinen entkräfteten Körper in den Schlaf. Und vielleicht, auch wenn die Hoffnung naiv erscheint, denke ich im Halbschlaf, fahre ich ja in ein neues, besseres Leben und sei es im Himmel.
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