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Preisträger Jan Honke

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Jan Honke, Klasse12, Gymnasium Caolinum

Unser Bildungssystem ist ein sterbender alter Mann

Betrachte ich unser aktuelles Bildungssystem drängt sich mir unweigerlich das Bild eines alten Mannes auf. Ein sehr alter Mann mit ziemlich aus der Mode gekommener Kleidung, der, dem Großteil seiner einstigen körperlichen Stärke beraubt und angesichts seiner Jugend im Industriezeitalter vom Kohlestaub hustend und durch die Traumata zweier Weltkriege zitternd, im Rollstuhl sitzt. Und trotz seines hohen Alters wird er stetig am Leben erhalten, weil Menschen mit Macht und Einfluss es für wichtiger halten den wackligen Status Quo und eine, fast schon heilige, schwarze Null zu erhalten, statt Zeit und Geld in einen für die heutige Zeit passenden Ersatz zu investieren.

So leidet dieser alte Mann, den man einfach nicht sterben lässt und mit ihm leiden Generationen von Schülern, die in einem System, das ihnen nicht angepasst ist, ihrer Lust am Lernen und Entdecken beraubt werden. Denn sie werden in einer Institution „auf das Leben vorbereitet“, die ihnen das Träumen von einer besseren Welt im Keim ersticken lässt, die Kreativität verdorren und vielfältig talentierte Menschen glauben lässt dumm und nichtsnutzig zu sein. Doch trotz all dieser Grausamkeit in diesem System, dreht sich die allgemeine politische Debatte stetig um leidige Themen, wie das der Immigration, selbst noch Jahre nach Ende der eigentlichen Krise, weil Populisten es mit einer Leichtigkeit vermögen, Ängste zu schüren, die bei rationalen Abwägungen nie entstehen würden. Jedoch wird einem in der Schule ja schon beigebracht, einfach zu glauben, was die Autorität, hier also der Lehrer, sagt.

Unser aktuelles Bildungssystem ist eine der Wurzeln der zahlreichen Krisen unserer Zeit, denn es ist nur sehr geringfügig unserer Gegenwart angepasst. Dabei war das Bildungssystem ursprünglich eine echte Innovation und für das Industriezeitalter perfekt zugeschnitten: Es hat eine Menge gefügiger, für verschiedenste Tätigkeiten generalisierter Fabrikarbeiter und Beamter hervorgebracht und die besten Schüler aus reichen Elternhäusern aussortiert, um aus ihnen die zukünftigen Unternehmer und Fabrikbesitzer zu machen. Jedoch wurde es nie grundlegend verändert, vielmehr wurde immer nur die Fassade neu angestrichen. Wirft man einen genaueren Blick auf heutige Schulen, erkennt man allerdings immer noch sofort den ursprünglichen Zweck der Schule: Fabrikarbeiter und Beamte ausbilden. Eine große Anzahl Schüler sitzen in Reihen nebeneinander, wie an Fließbändern oder Produktionstischen, und führen sechs bis acht Stunden lang mit kleinen Pausen, möglichst genau und ohne Hinterfragen die Aufgaben aus, die ihnen der Lehrer, wie später der Vorarbeiter, diktiert. Je nachdem in wie weit das Produkt jedes Einzelnen den Anforderungen entspricht, wird dieses Produkt, also die Aufgabe bzw. der Test, mit einem „Gütesiegel“, einer Note, ausgezeichnet. So benutzen wir in Deutschland Gütesiegel von „sehr gut“, also Erstklassig, bis „ungenügend“, also Fehlproduktion. Dieses grundsätzliche System benutzen wir heute noch genauso wie vor 150 Jahren. Die einzigen Modifikationen sind die Fächer und daraus resultierend die Länge der theoretischen Ausbildung vor der praktischen Tätigkeit. Anfangs hat es für die Bedienung einfacher Maschinen noch ausgereicht die Grundrechenarten sowie grundsätzliches Lesen und Schreiben zu beherrschen. Als man dann eine größere Menge Wissen für ein breiteres Spektrum an Berufen bereitstellen wollte, fügte man bald kompliziertere mathematische Rechnungen, Lateinunterricht, Geschichte etc. hinzu. So hat man es im Grunde bis zu unserem heutigen Bildungssystem gemacht: immer etwas drauf gepackt, einige Themen an aktuelle Erkenntnisse und vorherrschende Ideologien angepasst und die Erziehungsmethoden im Laufe der Zeit humaner gestaltet. Führt man sich dies vor Augen, wird einem bewusst, dass wir heute noch quasi genauso gebildet werden, wie bereits unsere Urahnen vor 100 Jahren.

Dieses System macht die Schüler krank. Das ist allerdings auch kein Problem, das die Schule erst seit Kurzem hat. Bereits zur Jahrhundertwende um 1000 wurde der immense Leistungsdruck, den das Schulsystem auf den Schüler ausübt, kritisiert.

Ich finde es bezeichnend, dass man Hermann Hesses „Unterm Rad” aus dem Jahre 1906 liest und sich als Schüler auch noch 100 Jahre später voll und ganz in den Protagonisten, Hans Giebenrath, hineinfühlen Kann und erkennt, dass es auch heute noch unzählige Giebenraths an den Schulen dieser Welt gibt: Junge, engagierte Menschen, die durch die Last der Aufgaben, der Lehrer, ihrer Mitschüler und ihrer Eltern erdrückt werden, um dann ausgepresst ihren Lebenssinn zu verlieren und diesen nur schwerlich wieder zu finden. Doch anstatt das System selbst anzufassen und zu verbessern, werden entweder Sündenböcke gefunden oder Symptome bekämpft. Der beliebteste Sündenbock für verdorbene Lust am Lernen sind seit Alters her die Lehrer. Dabei kann selbst der beste Lehrer dieser Welt nur im Rahmen staatlicher Regelungen handeln. Wie Hesse es in „Unterm Rad“ beschrieb, ist es schließlich „seine Pflicht und sein ihm vom Staat überantworteter Beruf [...] in dem jungen Knaben die rohen Kräfte und Begierden der Natur zu bändigen und auszurotten und an seine Stelle stille, mäßige und staatlich anerkannte Ideale zu pflanzen."11 Das Problem liegt also bei der Struktur selbst, nicht bei den Lehrern.

Die Frage bleibt dabei dann allerdings im Raum, warum all die Jahre nichts Gravierendes an der Bildung verändert wurde. An Ideen kann es nicht gemangelt haben, immerhin wurden über die Jahre unzählige Verbesserungsvorschläge, zum Beispiel aus Erkenntnissen der Hirnforschung, geliefert. Es gibt sogar Menschen, die ihr gesamtes Lebenswerk dem Aufzeigen besserer Lernmethoden gewidmet haben, hierbei möchte ich stellvertretend nur mal den Neurobiologen Gérait Hüther und die Motivationstrainerin Vera Birkenbihl nennen. Herr Hüther hat unter anderem die Erkenntnis publik gemacht, dass Lernen immer aus einer Begeisterung für das Thema hervorgeht. Wenn man also für etwas brennt, kann man sogar selbst im hohen Alter noch etwas Neues lernen. Daran anknüpfend steht die Feststellung Vera Birkenbihls, dass man einmal gelerntes Wissen immer wieder abrufen kann und im Gegensatz dazu das gepaukte Wissen, also auf Zwang gemerktes Wissen, nicht im Hirn verbleibt, also sofort wieder „gelöscht" wird. Schaut man sich diese Erkenntnisse an, wird einem sofort klar, dass das aktuelle System vollkommen falsch neue Sachverhalte vermittelt. Anstatt Wissen auf langfristige Sicht zu lernen, stopfen wir das ganze Wissen angestrengt in uns hinein. Diese sogenannte „Lernbulimie“ geschieht auch nicht aus Interesse oder Begeisterung für das Thema, sondern weil wir gute Noten, gute Gütesiegel, als Auszeichnung unserer Fähigkeiten in zukünftigen Ausbildungswegen oder Berufen brauchen. Deswegen zwängen wir das ganze Wissen in uns hinein, um dieses dann in die Tests zu erbrechen. Wie es dann beim Erbrechen so üblich ist, bleibt nichts mehr zurück, nachdem es einmal den Körper verlassen hat, sprich das Wissen im Test angewendet wurde. Da kann es doch nicht für Verwunderung sorgen, dass laut Studien 80% des in der Schule Gelernten zwei Jahre nach dem Abschluss schon wieder vergessen wurde. Anhand dieser Studie sieht man, dass das Wort „Gelerntes“ in diesem Fall fehl am Platz ist, denn der Großteil des Wissens wird in der Schule gepaukt und gepauktes Wissen hält nur bis zur nächsten Prüfung vor.

Wir sehen also allein anhand dieses einen Kritikpunktes am Bildungssystem, dass eine ganze Menge getan werden muss, um Schule zu einem Hort der Freude am Lernen und der Entfaltung der Talente eines jeden Einzelnen zu machen. Dabei gibt es noch unzählige weitere Punkte, an denen das Schulsystem kritisiert werden kann. Jedoch wird in der allgemeinen politischen Debatte nicht im Geringsten über auch nur einen dieser Kritikpunkte diskutiert. Stattdessen flieht man sich in Platzhaltedebatten über bessere Finanzierung von Schulen, Inklusion und der Länge des Bildungsweges bis zum Abitur, die allesamt Tropfen auf dem heißen Stein sind, im Angesicht der chronischen Fehlentwicklung einer Generation nach der anderen. In den Schülern von Heute stecken die Innovationen von Morgen.
Nur können diese Innovationen gar nicht erst entwickelt werden, wenn man kreative Köpfe in ein graues Muster presst und damit in Kauf nimmt, dass unzählige talentierte junge Menschen darin hängen bleiben und sich dadurch ihr ganzes Leben lang einbilden dumm und faul zu sein. Dabei machen es doch heute die großen Unternehmen, wie z.B. Facebook oder Bosch, sogar schon vor, wie man ein motivierendes und Kreativität anregendes Umfeld schaffen kann und zeigen damit, dass eben kreative und innovative Köpfe in der Wirtschaft gebraucht werden.

Wir leben heute in einer Zeit des Umbruchs. Immer mehr Menschen beginnen den Status Quo in Frage zu stellen, so auch in der Bildung. Ich lebe in der Hoffnung, dass ein zukünftiges Schulsystem keine solche Gestalten wie den traurig gescheiterten Hans Giebenrath mehr produziert. Dass es besser geht, sieht man Heute bereits in Skandinavien, das dem Rest der Wett in derartigen Fragen immer schon einige Jahre voraus zu sein scheint. Es gibt die Ideen und die Motivation ein besseres Bildungssystem zu bauen. Nur kostet das eben Geld und Zeit. Da wir allerdings leider in einem System leben, in dem man mit Krieg mehr verdient als mit umfassend gebildeten, zur reflektierenden Umgebungswahrnehmung fähigen Bürgern, sind die momentan herrschenden Parteien nicht gewillt etwas daran zu verändern. Dabei bringt ein gutes Bildungssystem einen viel größeren Profit als jeder Rüstungsexport - Zufriedene, mündige Menschen. Es verbleibt nur zu spekulieren, warum die herrschende Klasse, repräsentiert durch konservative und neoliberale Parteien, sich weigert das Bildungssystem zu revolutionieren. Eine populäre Vermutung bleibt, dass mit sich selbst zufriedene, aufgeklärte Bürger weniger konsumieren und schlechter durch Populismus und manipulierende mediale Berichterstattung zu kontrollieren sind, da sie sonst womöglich kritischer auf diese Dinge blicken würden. Oder um in Hesses Worten auszudrücken: „Wie mancher, der jetzt ein zufriedener Bürger und strebsamer Beamter ist, wäre ohne diese Bemühungen der Schule zu einem haltlos stürmenden Neuerer oder furchtbar sinnenden Träumer geworden!“2).

Die Schule braucht also eine Generalüberholung. Jedoch wird eine solche Bildungsrevolution, wie viele für die Allgemeinheit positive Neuerungen, wohl eher nicht von Oben herab geschehen. Es ist also notwendig für jeden Einzelnen, ungeachtet dessen ob man selbst davon profitiert oder nicht, für eine solche Revolutionierung der Bildung einzustehen und den Willen des Volkes geltend zu machen - Demokratie ist ein Mitmachsport. Tun wir dies nicht, wird der alte Mann Bildung bald unweigerlich sterben und verrotten, zusammen mit den Hoffnungen und Ambitionen von Generationen an Schülern.

1)Hesse, Hermann, „Unterm Rad“, Suhrkamp Vertag, Frankfurt am Main, 2016 (54, Aufläge), S. 46
2)Hesse, Hermann, „Unterm Rad“, Suhrkamp Vertag, Frankfurt am Main, 2016 (54. Auflage), S. 4